Prokrastination – Text aus der Zeit

Prokrastination ist ein weit verbreitetes Übel. Nur die, die darunter leiden, verstehen diesen Text – für andere – Nichtprokrastinierer – bleibt Vieles unverständlich. Es gibt selten Texte, in denen ich mich so wieder finde, wie in diesem Beitrag (habe ich schon erwähnt, dass ich eigentlich meine Diss schreiben sollte/wollte? Aber nein, ich warte lieber meine beiden Blogs – und die sind im Moment wirklich gut gewartet.

Der Text ist von Kathrin Passig, das in der Zeit 2008 erschienen ist. Es geht dabei um Prokrastination – also um die Angewohnheit, Dinge nicht gleich zu erledigen, sondern möglichst spät (oder noch besser – möglichst gar nicht (-; )

Ich muss jetzt hier leider einen Text 1:1 kopieren, da ich immer in Sorge bin, dass ich ihn irgendwann nicht mehr finde.

Prokrastination: „Aufschieben ist auch arbeiten“

August 2007

Ich halte ungern Vorträge, denn sie sind erstens mit Arbeit und zweitens mit der Option verbunden, sich vor Publikum zum Löffel zu machen. Aber der Schweizer Dozent René Gisler möchte, dass ich im Herbst seinen Studenten an der HGK Luzern etwas zum Thema „Der Reichtum der Nichtverwertbarkeit“ erzähle, und er fragt so nett, dass ich nicht ablehnen kann.

Den Inhalt wird man sich noch ausdenken müssen, aber als Titel schlage ich schon mal die Betreffzeile einer Spammail vor, die ich gerade erhalten habe: „Putting the Pro in Procrastination“. Damit sich die Recherche lohnt, muss der Vortrag mindestens zweimal gehalten werden.

So kommt es, dass ich schon im August zusammen mit Sascha Lobo beim „9 to 5 – Wir nennen es Arbeit“-Festival in Berlin darüber doziere, wie man die Dinge geregelt kriegt, und zwar ohne einen Funken Selbstdisziplin. Meine Hälfte bereite ich eine Stunde vor der Veranstaltung vor, denn ich bin diszipliniert. Während ich den Anfang vortrage, arbeitet Sascha im Hinterzimmer die zweite Hälfte aus. Wider Erwarten geht alles gut, und das Publikum freut sich: „Wir dachten immer, wir wären die Einzigen, die nichts geregelt kriegen!“

September

Wir beschließen, ein Buch zum Thema zu schreiben. Schließlich gibt es etwa zwei Regalmeter Literatur zum Thema Zusammenreißen und Zeitmanagement sowie unzählige Produktivitätsblogs, die einem erklären, wie man Selbstdisziplin erlangt – unter Zuhilfenahme von Selbstdisziplin. Die Welt braucht unser Buch. Das findet erfreulicherweise auch der Rowohlt Verlag.

Als Abgabetermin schreiben wir Ende Februar ins Konzept. Die handelsübliche Arbeitszeit für ein Buch beträgt zwar ein ganzes Jahr, aber wir überspringen die Hälfte des Jahres, die man sowieso nur mit Prokrastination verbringt, und steigen direkt in die Torschlusspanik ein.

Oktober

Die Torschlusspanik lässt auf sich warten. Ich lese erst mal ein paar Bücher und Artikel zum Thema. Eigentlich wollte ich nie ein Buch mit Sascha Lobo schreiben, genau genommen habe ich Freunde gebeten, mich unbedingt davon abzuhalten, sollte ich je auf die Idee kommen, zusammen mit Sascha ein Buch zu schreiben.

Holm Friebe hat es bei „Wir nennen es Arbeit“ ausprobiert und damals oft über Sascha, die faule Sau, geklagt. Inzwischen arbeitet Holm an einem neuen Buch, diesmal zusammen mit dem Journalisten Thomas Ramge. Ramge erklärt uns, wie das Bücherschreiben geht: „Man setzt sich halt morgens um neun an den Rechner und schreibt bis eins, ich weiß nicht, was daran so schwierig sein soll.“ Jetzt tut Holm mir ein bisschen leid. Dann doch lieber Sascha, die faule Sau.

Ich lege ein Google-Doc „Materialsammlung“ für unsortierte Notizen an und interviewe abends beim Bier ein paar Freunde. Für mehr ist gar keine Zeit, ich muss zum Beispiel dringend ein neues Blog-Projekt auf die Beine stellen, genau jetzt. Sascha kauft für 600 Euro Bücher und kündigt „Teile des ersten Kapitels“ an. Stand am Ende des Monats: 0 von 200 Seiten.

November

Es gibt viel zu tun, nur nicht am Buch. Meine täglichen Notizen im Google-Doc „Buchfortschritte“ lauten „Gar nichts außer verstreuten Notizen“, „Unklar, wahrscheinlich gar nichts“, „Gar nichts wegen irgendwas Wichtigem“ oder „Unter großen Qualen gar nichts“. Außer am 8. November, denn da schreiben wir hastig eine 20-seitige Kapitelübersicht, die sich unser Verleger wünscht. Genau genommen schreibt Sascha ungefähr 18 Seiten, und ich schreibe den Rest. Da diese Übersicht einige echte Textteile enthält, lautet der Stand am Ende des Monats: 10 von 200 Seiten.

Dezember

Ich habe im September angekündigt, dass ich am 31. Dezember die Tastatur hinwerfen und Sascha den Rest machen lassen werde, denn ich habe schließlich noch was anderes zu tun. Es kann sein, dass diese Ankündigung gar nicht so gut durchdacht war. Allerdings habe ich für meine Magisterarbeit auch nur eine Woche gebraucht, und die hatte bestimmt hundert Seiten. Es kann also sein, dass es noch klappt.

Drei der verbleibenden vier Wochen kann ich also noch ganz andere Dinge tun, hurra! Zum Beispiel muss ich dringend alle fünf Staffeln von The Wire sehen und mir Weltverbesserungspläne für 2008 ausdenken. Was ich nicht bedacht habe: Die vierte der vier Wochen liegt zwischen Weihnachten und Silvester, und es ist dem Menschen psychisch unmöglich, in dieser Zeit auch nur einen Handschlag zu tun. Auf unklare Weise kommen im Dezember trotzdem weitere 30 Seiten zustande.

Januar 2008

Allmählich müsste wirklich mal jemand was tun. „Edwards Gesetz von Zeit und Aufwand“ besagt, dass die Energie, die man in die Arbeit investiert, umgekehrt proportional zur verbleibenden Zeit ist. Aber es muss ja nicht unbedingt die eigene Energie sein, die ist ein kostbares Gut, das man nicht leichtfertig verschleudern soll. Deshalb beauftragen wir Hilfskräfte damit, die gesammelte Selbsthilfeliteratur für uns zu lesen und zu exzerpieren.

Gegen Mitte des Monats ist es dann doch so weit: Deadlinepanik macht mich arbeitsfähig. Na gut, es ist nicht nur die Deadlinepanik, es ist auch das Ritalin, das ich auf Rezept bekomme und in Notsituationen einnehme. Dass ich es gar nicht gegen Prokrastination, sondern gegen Narkolepsie verschrieben bekomme, ist dem Medikament zum Glück egal. Es tut seine Wirkung, und ich schreibe jeden Tag 5000 Zeichen. Außer an den Tagen, an denen ich dringend andere Dinge zu tun habe.

Sascha hat es schwerer, denn er bekommt zwar aus anderen Gründen dasselbe verschrieben, ist aber als Kind in den Topf mit dem Ritalin gefallen und daher gegen die Wirkung immun. Gegen Monatsende drohe ich ihm damit, auf seine Kosten einen Ghostwriter ins Boot zu holen. Sascha fängt sofort an zu schreiben und produziert in einer Woche mehr Text als ich im ganzen Monat. Ich hasse ihn dafür. Ende Januar sind 130 von 200 Seiten fertig.

Februar

Unter Zuhilfenahme von Ritalin und Matetee arbeite ich täglich mit acht Händen an sechzehn Dokumenten. Ich erscheine am späten Nachmittag im Büro, treibe mich höchstens eine halbe Stunde lang im Internet herum und schreibe dann ohne Unterlass bis Mitternacht. Gegen Ende des Monats geschieht es mehrmals, dass dabei versehentlich viel mehr als 5000 Zeichen entstehen. Die Arbeit ist interessant und macht, man kann es nicht anders sagen, Spaß.

Bei Sascha ist immer wieder von „stundenlanger Arbeit am Buch“ die Rede, ohne dass sich Ergebnisse dieser Arbeit in den Google-Docs niederschlagen. Gut, dass der Februar in diesem Jahr 29 Tage hat. So gelingt es uns, pünktlich zur Deadline eine 250 Seiten lange Version 0.9 abzugeben. Die Hälfte dieser Seiten stammt, egal, wie oft ich nachzähle, von Sascha.

März

Zum Glück enthalten Verlagsverträge vier Wochen eingeplante Verspätung, die man wie einen Hosensaum bei Bedarf einfach auslassen kann. Vier Wochen sind erstens sehr lang, und zweitens müssen wir uns dringend von der Begegnung mit der Deadline erholen. Bis Mitte des Monats geschieht deshalb nichts und danach auch nicht sehr viel. Der Verleger hat den Fehler gemacht, im Gespräch durchblicken zu lassen, dass wir das Buch auch am 7. April abliefern können, ohne dass der Verlag gleich zugrunde geht.

April

Wir verlängern um weitere drei Tage. Aber da jede glaubwürdige Verlängerung kürzer als die vorhergehende sein muss, kann jetzt nicht mehr viel passieren. Irgendwann heißt es: „Reicht auch heute Abend noch?“, dann: „Es wird eine halbe Stunde später“, und wer will, kann jetzt noch um Sekunden feilschen.

Am 10. April ist das Buch 40 Seiten zu lang, die Kapitelüberschriften fehlen, und es gibt eine lange Liste mit dem Titel „Was dringend noch rein muss“. Aber schließlich halten Autoren ihre Bücher immer für unfertig, es handelt sich also sicher um eine optische Täuschung. Abgabe!

Epilog

Während der Arbeit am Buch habe ich ein neues Blog gegründet und mehrere vollgeschrieben, ein anderes Buch fertiggestellt, an einer Radiosendung mitgearbeitet, ein Museumskonzept, ein Kunstprojekt und diverse neue Geschäftsideen erdacht, die Buchhaltung der „Riesenmaschine“ reformiert, zwölf Berge bestiegen und sämtliche verpassten Serien der Jahre 2002 bis 2008 gesehen.

In der Minute der Buchabgabe war es damit vorbei. Es gibt nichts, was ich dringend erledigen müsste, und damit fehlt jeder Antrieb, statt des Dringenden andere Dinge zu tun. Ich sitze in der Sonne herum, lese stundenlang das Internet durch und schlafe viel. Gut, dass das nächste eilige Projekt vor der Tür steht, denn ich will endlich mal das Computerspiel Sam & Max Season Two spielen. Man kommt ja sonst zu nichts.

Prokrastination – inzwischen fast ein Modewort

Inzwischen ist Prokrastination schon fast zu einer Modeerscheinung geworden. Aber dennoch ist es mühsam, wenn man darunter leidet. (Habe ich erwähnt, dass ich jetzt arbeiten sollte?)

Quelle: www.zeit.de: Aufschieben ist auch arbeiten

Und hier die Ankündigung für das Buch – falls noch nicht klar ist, was unter Prokrastination zu verstehen ist. (-;

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