K. oder die verschwundene Tochter: Alles in diesem Buch ist erfunden, doch fast alles ist geschehen
K. oder die verschwundene Tochter ist das Roman-Debüt von Bernardo Kucinski, darin erzählt der Autor die Suche des jüdischen Einwanderers K. nach seiner verschwundenen Tochter A. Diese ist Mitte 30 und arbeitet an der Universität in São Paulo als Chemie-Dozentin. Zunächst fällt K. auf, dass er schon länger nichts mehr von seiner Tochter gehört hat, worauf er sich zur Universität begibt und ihre Freundinnen befragt. Aber auch die wissen nicht, wo die Tochter steckt. So beginnt die langwierige Suche mit zahlreichen Rückschlägen, doch die Tochter bleibt verschwunden. Langsam wird ihm klar, dass sie Teil einer Untergrundorganisation angeschlossen hat, die sich gegen die brasilianische Militärdiktatur gestellt hat.
Die Erzählung spielt Mitte der 70er Jahre in Brasilien. Es ist eine Zeit der Militärdiktatur (1964–1985), in der Menschen, die sich dagegen wehrten, häufig plötzlich verschwanden. Viele dieser Verschwundenen – den Desaparecidos – waren Mitglieder der sogenannten Nationalen Befreiungsaktion (Açao Libertadora Nacional). K. oder die verschwundene Tochter ist sehr biographisch, da die Schwester von Kucinski, Mitglied dieser Befreiungsaktion war und 1974 festgenommen wurde und seither verschwunden ist. Bis auf einen Aktenvermerk, dass sie verhaftet worden sei, blieb die Suche durch die Familie erfolglos. Erst 2012 gestand ein pensionierter Offizier, dass Kucinskis Schwester mit 10 weiteren Personen m Ofen einer Zuckerrohbrennerei verbrannt worden sei. Immer wieder erkennt man die Parallelen zwischen der Geschichte des Autors und seiner Schwester und den tatsächlichen Geschehnissen der Militärdiktatur, in der gefoltert und ermordet wurde, in der Kritiker nicht verschont wurden.
Wie frustrierend die Suche nach einer Verschwundenen in diesem politischen Klima sein kann, beschreibt der Autor aus Sicht von K., der es zunächst nicht glauben will, dass die Tochter wirklich verschwunden ist, er denkt an einen Unfall oder eine schwere Krankheit. Seine Suche und seine Frustration über die vielen Sackgassen werden unterbrochen durch kurze Einblicke in die Erlebnisse der Opfer selbst, die ständig in Angst vor Entdeckung leben, in die Geschichten von den Mitläufern, die zwar wissen, aber nicht handeln und selbst daran fast zerbrechen, aber auch von den Tätern, die den Vater bewusst in die Irre locken oder Angst vor der Entdeckung haben.
Der Großteil der Geschichte ist aus der Sicht des Vaters erzählt, der ein einfacher Kaufmann und Autor ist, der sich ganz der jiddischen Sprache verschrieben hat. Er erzählt von seinen Schuldgefühlen, weil er der Tochter zu wenig Acht gegeben hat, genauso wie von sinnlosen Suchrichtungen – wo er von vornherein weiß, dass sie zu nichts führen. Immer wieder werden Erinnerungen an seine Zeit in Polen wach, in der auch er im Widerstand tätig war und selbst mehrmals inhaftiert war. Der Leser erfährt von der Berg- und Talfahrt zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, der Tapferkeit mit der K. immer wieder neuen Informationen nachgeht, um am Ende wieder enttäuscht zu werden. Man erlebt den Wandel eines frohen Geschäftsmannes und Autos zu einem müden, alten Mann.
Dem Autor gelingt es sprachlich und durch die verschiedenen Szenen und Sichtweisen, den Leser in die Geschichte hinein zu ziehen. Die Mauer des Schweigens, der K. überall begegnet wird auch für den Leser fast unerträglich. Kucinski macht dieses Klima der Angst und Verdächtigungen, der Hoffnungen und Hoffnungslosigkeit nahezu fühl- und greifbar. Alleine die häufigen Wechsel sind manchmal verwirrend, die vielen Namen und politischen Gesinnungen lässt einen manchmal den Überblick verlieren. Leicht ist das Buch nicht, aber nicht nur wegen den vielen Stimmen, die hier zu Wort kommen.
K. oder die verschwundene Tochter ist der erste Roman von Bernardo Kucinski einem brasilianischen Journalisten und Autor. Er selbst lebte einige Jahre während der Militärdiktatur im Exil, kam aber zurück, um seine Familie bei der Suche nach seiner Schwester zu unterstützen. Er setzt sich auch heute noch sehr stark für die Angehörigen von durch die Militärdiktatur Verschleppten ein und versucht ihnen eine Stimme zu geben. Bis heute wurde diese Zeit in Brasilien nicht aufgearbeitet. Die brasilianische Präsidentin hat eine Wahrheitskommission eingesetzt, die 2014 ihren Bericht vorgelegt hat: 434 Personen sind durch das brasilianische Militärregime getötet worden. Allerdings ist diese Zahl noch nicht vollständig. Neben den Opfern listet die Wahrheitskommission auch die Täter auf: bisher konnten 377 Verantwortliche namentlich genannt werden.
Bernardo Kucinski: K. oder Die verschwundene Tochter
Transit Buchverlag
Berlin 2013,
144 Seiten
Zitat aus dem Buch:
Der Staat hat weder Gesicht noch Gefühle, er ist undurchsichtig und pervers. Sein einziger Sehschlitz ist die Korruption. Doch manchmal wird selbst dieser aus übergeordneten Gründen geschlossen. Dann verdoppelt der Staat seine Bösartigkeit – aufgrund reiner Grausamkeit und seiner Unerreichbarkeit.