Internet im Jahr 2005

Nachts um eins vor dem PC im Internet

Es ist 00:47 Uhr. Die Schreibtischlampe taucht den Raum in ein warmes Licht, der Rest der Wohnung liegt still und dunkel. Draußen rauscht der Wind durch das gekippte Fenster. Die Stadt schläft, aber der Bildschirm von User X leuchtet. Er ist wach. Und er ist nicht allein. Er ist im Internet. Zwischen Mitternacht und ein Uhr liegt eine besondere Zeit. Sie gehört niemandem, und doch ist sie voller Stimmen. Es ist die Stunde, in der User X durch digitale Räume streift, die Stunde der freien Gedanken, der Suchenden, der Schreibenden, der Lesenden. User X surft nicht. Er durchquert, er durchdenkt, er entdeckt.

Das Internet 2005 ist anders

Das Internet im Jahr 2005 ist kein Ort der Hochglanzprofile, der „Gefällt mir“-Buttons oder des algorithmischen Stroms, der mich füttert. Es ist nicht laut, nicht laut von sich selbst. Es fordert keine Reaktion, sondern bietet Raum. Raum für Blogs, die wie persönliche Tagebücher sind – mal roh, mal poetisch, mal banal, aber stets ehrlich. Für Foren, in denen man sich nächtelang über Filme, Spiele, Literatur oder Philosophie austauschen kann. Für Websites, die aussehen wie in Notepad zusammengebaut, aber Inhalte enthalten, die tiefer gehen als jede glattgebügelte Corporate-Seite. User X loggt sich in seinem Lieblingsforum ein. Da ist „Nyx“, die immer gegen Mitternacht auftaucht und über seltsame japanische Horrorfilme schreibt, die User X nie gesehen hat, aber trotzdem spannend findet. „SyntaxError“ diskutiert über Linux-Distributionen. „Kaffeesatz“ hat ein neues Gedicht gepostet. User X liest mit, schreibt zurück. Niemand kennt sein Gesicht, aber sie kennen seinen Stil, meinen Tonfall. Und er kenne ihren. Die Namen sind gewählt, nicht gegeben. Die Beziehungen sind Text. Und doch: Es fühlt sich persönlich an.

Das Internet – Neuland, oder auch nicht

User X ist Anfang zwanzig und spürt, dass das Netz etwas in ihm berührt, das die reale Welt oft übersieht: seine Neugier. Seine Lust auf Sprache, auf Gedanken, auf Komplexität. Er entdeckt einen Blog über semiotische Zeichen in Videospielen – ein nerdiges Nischenthema, das er nur durch Zufall findet. User X verschlingt den Text, verfolgt die Links. Jede Seite ist ein Fenster in eine neue Welt, geschrieben von Menschen, die niemand bezahlt, die einfach nur teilen wollen, was sie bewegt. Was ihn so fasziniert, ist das Gefühl der Offenheit. Das Netz ist zu dieser Zeit kein Markt, sondern ein Archiv, ein Experimentierfeld, ein geheimer Garten. Man muss sich durchwühlen, man muss suchen – und wird gerade deshalb belohnt. Es gibt keine Filterblasen, weil es keine Filter gibt. Er ist auf sich gestellt – aber nicht isoliert. Es ist wie ein nächtlicher Spaziergang in einer endlosen Bibliothek mit Flüstertüren, die sich öffnen, wenn man den richtigen Link anklickt.

Unvergessliches im Netz von 2005

Natürlich gibt es auch Chaos. Manche Seiten sind kaum lesbar, manche Diskussionen entgleisen. Doch selbst das Unfertige hat einen eigenen Charme. Man spürt die Menschen hinter den Seiten – ihre Leidenschaft, ihre Schrullen, ihre Unbeholfenheit. Es ist ein Netz, das nicht für den Verkauf gebaut ist, sondern für das Erzählen. Für das Mitteilen. Für das Staunen. User X erinnert sich an eine Nacht, in der er auf einer Seite landete, die nur aus einem langen Essay bestand: Ein junger Mann schrieb über seine Großmutter, den Krieg, und wie er durch das Programmieren seine Trauer verarbeitete. Es war roh, persönlich, und User X saß minutenlang still, als er mit dem Lesen des Blogs fertig war. Er klickte nicht auf „Teilen“, er hinterließ keinen Kommentar. Aber User X vergaß es nie.

Nicht besser – aber anders

Das Netz damals ist nicht besser als heute – es ist anders. Und vielleicht ist es User X, der es verklärt, mit der Romantik eines Nachtsurfers. Aber es war ein Raum mit weniger Lärm. Mit weniger Zwang zur Präsentation. Mit mehr Zwischentönen. Er kann seine Gedanken formulieren, ohne sofort um Aufmerksamkeit buhlen zu müssen. Es zählt, was er schreibt, nicht wie er aussieht, wie viele Follower er hat oder wie klickstark sein Profilbild ist. Um 01:03 Uhr klappt er den Laptop zu. Die Seite, die er zuletzt geöffnet hatte, war ein Blogeintrag über Science-Fiction und Einsamkeit. Er hatte drei Tabs offen mit Links, die er morgen lesen will. Er ist müde, aber ruhig. Seine Gedanken sind angeregt, nicht überfordert. Er hatte heute nichts produziert, nichts „geteilt“, nichts optimiert. User X hatte gelesen, gedacht, geschrieben – und das reicht.

Das Internet im Jahr 2005 verbindet

Es ist dieses stille Glück, das ihn Nacht für Nacht anzieht: die Vorstellung, dass da draußen irgendwo andere sitzen, in dunklen Zimmern, mit Tassen Tee oder kaltem Kaffee, mit ihren Bildschirmen, ihren Geschichten, ihren Fragen. Und dass sie sich alle, auf diese Weise, begegnen – durch Worte, durch Gedanken, durch diesen unsichtbaren Faden, der sich durch das Netz zieht. Vielleicht wird dieses Netz sich verändern. Vielleicht werden Firmen es dominieren, Plattformen es strukturieren, Algorithmen es glätten. Vielleicht wird es lauter werden, schneller, greller. Vielleicht wird man irgendwann sagen: Damals, da war das Internet noch frei. Vielleicht ist das hier ein kurzer Moment zwischen zwei Epochen – ein Zwischenraum, ein Übergang.

Aber jetzt, in diesem Moment, zwischen Null und Eins, ist User X hier. Und das reicht.

Aus dem Tagebuch

Einsam sitzt User X vor dem PC. Mitternacht ist längst vorbei. Alles ist ruhig. Die ganze Wohnung liegt im Dunkeln. Die einzge Lichtquelle ist das wechselnde Leuchten des Monitors. Nur das Gesicht des Users X wird beleuchtet, der Rest liegt im Schatten und verschwimmt mit der Dunkelheit.

User X sitzt und starrt gebannt auf die wchselnden Bilder, Schriften und Texte vor ihm. Er grübelt und siniert über die Weite des Internets und wo er sich überall verlieren wird können. Er braucht eine Pause, seit Stunden treibt er ziellos durch seine Lieblingsseiten. Das bringt ihn nicht weiter, das Wesentliche fehlt heute. Da ist eine Leere, die er die letzten Tage nicht spüren konnte, die war einfach nicht da.

Er sucht nach Neuorientierung, liest mal hier mal da

Die Uhr schlägt, Schon wieder ist eine Stunde vergangen. Die Dielen knarren. Irgendwo raufen zwei Katzen, es hört sich fast an, wie das Geschrei von Babys. Doch User X bekommt das alles nicht mit. Er ist gefangen im System. Es gibt kein Entkommen. Ein neues Forum erweckt das Interesse von User X. Gebannt liest er die Geschichten dieser kleinen virtuellen Welt.
Die User als Menschen kommen ihm immer näher, er erkennt, es sind Getriebene, Schlaflose, genau wie er.
Es zwingt ihn zu schreiben, sich wieder zu finden im Gegenüber in dieser virtuellen Welt. Er kann nicht aufhören. Er hat Seinesgleichen gefunden.
Die Welten verschwimmen. Was ist real, was nicht? Die Grenzen werden immer unklarer, Hemmungen fallen. Alles verrinnt im Dunkel des Zimmers, wird eins. Die Fähigkeit zu trennen geht verloren. Aber was bleibt? Ein Strom, ein Wirbel, der Wahnsinn. Antwort folgt auf Antwort, Schlag auf Schlag. Freunde werden gefunden, gemeinsam gelacht und geweint. Doch das was bleibt, ist ein fahler Nachgeschmack. Eine Welt ohne Sinn. Der Zauber verfliegt, war nur ein Traum, ein Tag beginnt, die Einsamkeit kommt zurück. Bis am Abend nachts um eins, denn dann beginnt der Zauber der virtuellen Welt von vorne.

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