Saudi Arabien – Raja Alem – Sarab

Unsere Lesereise führt uns nun nach Saudi Arabien: In Sarab erzählt die Saudische Schriftstellerin Raja Alem die Geschichte Raphales und Sarabs vor dem Hintergrund des Überfalls auf die al-Haram-Moschee in Mekka.

Raja Alem – Sarab

Sarab von Raja Alem dreht sich um die Geschichte von Raphael und Sarab, die beide in die Besetzung der großen Moschee in Mekka verwickelt sind. Terroristen haben die Große Moschee besetzt und halten die Welt in Atem. Sarab ist Teil der Terroristen und Raphael ein Mitglied der französischen Spezialeinheit, die bei der Stürmung der Moschee helfen soll. Als die Stürmung der Moschee beginnt, flieht Sarab in die Katakomben der Moschee. Plötzlich stößt Sarab auf den bewusstlosen Elitesoldaten und schleppt ihn mit sich und befördert ihn in eine leere Wohnung. Zwischen den beiden entsteht eine Beziehung aus Hass und langsamer Annäherung.

Als der Gegenangriff beginnt und es Fallschirmjäger vom Himmel regnet, flieht sie in die Katakomben und stößt auf einen bewusstlosen französischen Soldaten. Durch einen Abwasserkanal schleppt sie ihn ins Freie und versteckt sich mit ihm in einer leeren Wohnung. Zwischen den beiden, die sich zunächst bis aufs Blut hassen, beginnt eine Geschichte, die in Mekka, dann in Paris und in Aden, alle Grenzen überschreitet.

Historischer Hintergrund – Besetzung der al-Haram-Moschee

Am Dienstag, 20. November 1979, um 5:30 Uhr überfielen Jihadisten die al-Haram-Moschee in Mekka. Die Belagerung dauerte bis zum 5. Dezember. Rund 500 schwer bewaffnete Islamisten stürmten die Moschee während rund 100.000 Pilger beim Morgengebet waren. Die Terroristen schlossen die schweren Tore von innen und besetzten die Minarette mit Scharfschützen. Die unbewaffneten Aufpasser, die nicht fliehen konnten, wurden sofort getötet. Mehrere 1000 Pilger wurden als Geiseln genommen. Die radikalen Jihadisten forderten die Abdankung der saudischen Königsfamilie, den Abbruch aller Beziehungen zum Westen sowie die Ausweisung aller „gottlosen“ Ausländer und den Wiederaufbau eines radikalislamischen Staats.

Sofort ordnete die saudische Regierung einen Großangriff und eine Nachrichtensperre an: Tausende Soldaten stürmten einen Teil der Anlage. Allein am ersten Tag starben 300 Menschen, davon mindestens 200 Geiseln. Bereits drei Tage nach dem Überfall waren die oberirdischen Teile der Moschee gesichert, die Attentäter zogen sich in die rund 75 000 Quadratmeter großen Katakomben zurück, wo die Kämpfe weitergingen. Saudische Truppen leiteten Tränengas in die unterirdischen Räume. Doch konnte dies die Terroristen vorerst nicht stoppen.

Die saudischen Truppen wurde auf Bitte von König Chalid von der Antiterroreinheit der französischen Gendarmerie GIGN (Groupe d’intervention de la Gendarmerie nationale) unterstützt. Am 29. November machen sich drei Mitglieder der französische Spezialeinheit GIGN auf den Weg nach Mekka. Im Gepäck hatten sie 300 Kilo reines CS-Gas. Mit dem Gas arbeiteten sie sich mit der saudischen Polizei Raum für Raum vor. Im letzten Raum setzte das Militär den Rest der Jihadisten schließlich fest. Einen Monat später, am 9. Januar 1980, wurden sie hingerichtet.

Fachleute sind davon überzeugt, dass die Belagerung der Großen Moschee von Mekka neben der islamistischen Revolution im Iran und der sowjetischen Besetzung Afghanistans entscheidend für die Entstehung des religiös motivierten, weltweiten islamistischen Terrorismus war.

Raja Alem – Autorin

Raja Alem wurde 1970 in Mekka (Saudi Arabien) geboren. Sie studierte Englische Literatur an der King Abdulaziz Universität in Dschidda und schloss ihr Studium in den frühen 1990er Jahren ab. Bereits im Schulalter begann sie zu schreiben. Raja Alem pendelt zwischen Dschidda und Paris, wo sie lebt und in kulturellen Netzwerken aktiv ist (z.B. International PEN, Al-Mansouria Foundation, House of Photographers). Zusammen mit ihrer Schwester Shadia gründete Raja Alem ein Kultur- und Bildungszentrum für Mädchen in Mekka, das kreative Räume und Empowerment ermöglicht. Raja Alem zählt zu den bedeutendsten Stimmen zeitgenössischer arabischer Literatur: Sie transformiert die religiöse und kulturelle Identität Mekkas in ein literarisches Universum voller Spiritualität, Erinnerung und gesellschaftlicher Spiegelung. Ihre Werke sind zugleich dichte kulturelle Dokumente und künstlerische Visionen einer sich wandelnden Welt. Raja Alem hat etwa zehn Romane, mehrere Theaterstücke, Kurzgeschichten, Essays, eine Biografie sowie Kinderbücher veröffentlicht.

Raja Alem erhielt zahlreiche Preise:

  • UNESCO Arabic Women’s Creative Writing Prize (2005)
  • Lebanese Literary Club Prize (2008)
  • International Prize for Arabic Fiction (Arabic Booker) 2011 – als erste saudische und erste arabische Frau

Sarab – Zwischen Grauen und behutsamer Beziehung

*** Achtung Spoiler ***

Raja Alem bedient sich in ihrer Erzählung als Hintergrund einer wahren Geschichte. Dieser Terrorakt von 1979 bietet dabei den Rahmen der Erzählung. Raja Alem beginnt ihre Geschichte am 9. Tag der Belagerung der Großen Moschee. In eindrücklichen Bildern beschreibt sie den Anfang des Endes der Belagerung. Dabei scheut sie nicht, das Grauen zu beschreiben: Blut, Tod, Gas, Maden – der Leser wird in das Grauen mit einbezogen und bekommt das Gefühl, sich abwenden zu müssen. Immer wieder beschreibt die Autorin dabei äußerst bildreich und detailgenau absolut brutale Szenen. Zumindest in der englischen Übersetzung erfährt der Leser erst später, dass es sich dabei um eine junge Frau in Männerkleidung handelt. Sarab kann aus den gewalttätigen Szenen in der Moschee fliehen, nimmt dabei aber den durchtrainierten, französischen und zunächst bewusstlosen Soldaten mit.

So brutal beschrieben die Szenen in der Moschee waren, so einfühlsam und behutsam beschreibt Raja Alem die Entwicklung einer Beziehung zwischen Sarab und Raphael, dem Franzosen. Glaubhaft schildert sie die Entwicklung Sarabs, einer jungen Frau, die immer im Schatten ihres Zwillingbruders gestanden hat, die ihren einzigen Zweck darin sah, ihn am Leben zu erhalten. So geriet sie eher zufällig in die Fänge der Islamisten. Wie fehl am Platz sie hier ist, zeigt sich darin, dass sie während der Belagerung Verletzte auf beiden Seiten behandelt – aber dennoch wird sie die Schuld, die sie auf sich gelagert hat, niemals wieder los. Immer mehr erkennt sich Sarab als Individuum und vor allem als Frau.

Die Namen von Raphael und Sarab wurden von Raja Alem bewusst gewählt und beschreiben die Figuren: Sarab kommt aus dem Arabischen und bedeutet so viel wie Fata Morgana bzw. Illusion. Genau das, was Sarab im Buch auch verkörpert: Sie bleibt eine Illusion, die sich erst im Laufe der Handlung sich ihrer selbst immer bewusster wird. Aber, wie sie an einer Stelle im Buch bemängelt, nie eine Wahl hatte oder sich entscheiden konnte.

Der Name Raphael kommt aus dem Hebräischen und bedeutet so viel wie „Gott heilt“. So wird Raphel als Erzengel der Heilung gesehen. So wird Raphael zu einem Engel, der sie aus ihrer Rolle als Mann befreit und ihr dabei hilft, sich von ihren Fesseln zu befreien, auch wenn er selbst in den Fesseln und Traumata seiner Vergangenheit lebt.

Raja Alem verbindet in Sarab mythologische, religiöse und politische Elemente zu einem vielschichtigen Text, der die Grenzen zwischen Fiktion, Autobiografie und Kollektivgedächtnis bewusst verwischt. Sie durchbricht Schweigen der Frauenfiguren und verleiht diesen eine Stimme, die zugleich anklagt, erinnert und neu erschafft.

Einziger Wermutstropfen ist das etwas abrupte Ende des Buches. Das zwar einerseits stimmig zum Selbstzweifel und der Geschichte Sarabs passt, aber dennoch wirkt, als hätte jemand der Autorin gesagt, sie solle nun zu einem Ende kommen.

  • Titel: Sarab
  • Autorin: Raja Alem
  • Erschienen: Unionsverlag, Zürich 2018
    352 Seiten

 

Sarab von Raja Alem ist Teil unserer Lesereise rund um die Welt:

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