Die Lesereise geht weiter und führt uns nun nach Lettland: Muttermilch von Nora Ikstena. Nora Ekstana erzählt die Geschichte von drei Frauen zur Zeit der Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion.
Inhalt zu Nora Ikstena – Muttermilch
Der Roman Muttermilch (Originaltitel: M?tes piens, 2015; deutsch 2019) von Nora Ikstena erzählt in wechselnden Stimmen die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung in der Zeit der sowjetischen Besatzung Lettlands. Die Handlung setzt in den 1960er-Jahren ein und begleitet zwei Frauen über mehrere Jahrzehnte hinweg. Die Mutter ist eine talentierte Ärztin, die wegen ihrer offenen Kritik am Regime in eine abgelegene Provinz versetzt wird. Dort muss sie ihre Karriere unter schwierigen Bedingungen fortsetzen. Ihre Tochter wächst in dieser Atmosphäre auf und schildert aus der Perspektive des Kindes und später der Jugendlichen das Leben an der Seite einer Frau, die zwischen Fürsorge und innerem Rückzug schwankt.
Zur Autorin Nora Ikstena
Nora Ikstena wurde am 15. Oktober 1969 in Riga geboren. Sie zählt heute zu den wichtigsten Autorinnen Lettlands. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit gilt sie auch als kulturpolitische Gestalterin. Sie studierte Philologie sowie Anglistik an der Universität Lettlands und wurde später unter anderem Chefredakteurin der „Review of Contemporary Fiction“ an der University of Missouri. Zurück in Lettland war sie maßgeblich an der Gründung des Lettischen Literaturzentrums beteiligt. Seit 2003 war sie Mitglied und zeitweise Vorsitzende des Nationalen Kulturrats Lettlands. Nora Ikstena initiierte außerdem das Internationale Haus der Schriftsteller und Übersetzer in Ventspils und das Festival „Prose Readings“ in Riga. Nora Ikstena lebt in der Nähe von Riga.
Von den Anfängen bis zum Erfolg
Mit nur 28 Jahren sandte Nora Ikstena Proben ihres ersten Romans per Post an große Verlage in New York. Ein Editor von Soho Press lud sie daraufhin spontan zu einem Treffen ein. Er riet ihr jedoch, auf Englisch zu schreiben, wenn sie berühmt werden wolle. Sie jedoch blieb ihrer Muttersprache treu und wurde dadurch zur literarischen Stimme Lettlands. Ihr Debüt 1993 war eine Biografie über Anna R?mane-?eni?a. Diese war eine lettische Lehrerin und bedeutende Pionierin feministischer Ideologie in Lettland. Danach folgten zwei Kurzgeschichtensammlungen, Szenario- und Konzeptautorin für Filme, Musikprojekte, Großveranstaltungen sowie als Reise-Kolumnistin für die Tageszeitung Diena. Ihr Roman Soviet Milk (Muttermilch) führte 2015 zu einer ungewöhnlichen Reaktion: Lettische Bibliotheken führten wegen der hohen Nachfrage erstmals eine 24-Stunden-Ausleihe ein.
Bei Lesungen in lettischen Bibliotheken, so berichtete sie, kamen immer wieder Menschen zu ihr, um ihre eigenen, oft lange unausgesprochenen Geschichten zu erzählen. Diese Begegnungen würden teils wie Therapiesitzungen für die Zuhörer wirken, so Nora Ikstena.
Für ihre Werke bekam Nora Ikstena zahlreiche Auszeichnungen:
- 2006: Literaturpreis der Baltischen Versammlung
- 2008: Order of the Three Stars (Rang: Officer)
- 2015: LALIGABA (Lettischer Literaturpreis) für M?tes pien
- 2018: „Excellence in Culture Award“ als international bekannteste lettische Autorin des 21. Jahrhunderts
Lettland – Von Besatzung zur Unabhängigkeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Lettland tiefgreifend gezeichnet durch Krieg, Vertreibung und repressiven Umbruch. Die erneute Eingliederung in die Sowjetunion 1944/45 leitete eine Phase intensiver Umwälzungen in Lettland ein.
Säuberungen, Deportationen und demografische Brüche
Bereits während der ersten sowjetischen Besatzung 1940/41 wurden systematisch Intellektuelle, politische Führungspersönlichkeiten und deren Familien deportiert. Alleine im Juni 1941 waren etwa 15.500 Menschen aus Lettland betroffen, darunter 2.400 Kinder unter zehn Jahren. Die nächste große Welle folgte 1949 im Rahmen der Kollektivierung (Operation Priboi): Mehr als 42.000 Personen, unter ihnen auch ganze Familien, wurden in entlegene Regionen Sibiriens verschleppt. Viele von ihnen hatten nicht überlebt. Diese Aktionen zogen einen tiefen sozialen Riss nach sich und hinterließen bleibende traumatisierende Erinnerungen.
Russifizierung, Identitätsverlust und Stillstand
Parallel zur Repression verfolgte die sowjetische Verwaltung konsequent eine Politik der Russifizierung. Durch gezielte Ansiedlungsprogramme stieg der Anteil russischsprachiger Einwohner von etwa 25 Prozent auf über 48 Prozent bis 1989. In industriellen Zentren wie Riga wurde Russisch zur dominierenden Alltagssprache, was viele Letten in kulturelle Isolation trieb. Wirtschaftlich lag Lettland damit deutlich hinter westlichen Staaten, nach dem Krieg war Wirtschafts- und Infrastrukturaufbau nur unter sowjetischer Kontrolle möglich.
Alltag unter Überwachung: Anpassung und Widerstand
Die Menschen in Lettland lebten unter ständiger Kontrolle: Bildung, Kultur und öffentliches Leben standen unter ideologischer Überwachung. Doch der lettische Geist blieb lebendig: in privatem Rahmen, in kleinen Gemeinschaften und im Untergrund. Der Widerstand manifestierte sich in subtilen Formen: Verbotene Literatur, heimliche Feiern kultureller Traditionen und die Pflege des Nationalgedächtnisses trugen zur Identitätssicherung bei.
Lettland am Weg zur Unabhängigkeit
Mit Gorbatschows Reformen (Perestroika, Glasnost) eröffnete sich in den späten 1980er-Jahren erstmals wieder Raum für einen politischen Wandel. Bereits 1989 erfolgte eine erste Selbständigkeitserklärung Lettlands, und am 4. Mai 1990 wurde offiziell die Wiederherstellung der Unabhängigkeit beschlossen. Der entscheidende Durchbruch kam 1991: Lettland erklärte sich am 21. August unabhängig. Die Sowjetunion erkannte die Souveränität wenige Tage später an.
Gedanken zum Buch
In Muttermilch von Nora Ikstena kommen abwechselnd Mutter und Tochter zu Wort und erzählen die Geschichte und ihre Gefühle aus der jeweiligen Sicht. Die Beziehung der beiden Frauen zueinander ist von einer großen Distanz geprägt. Durch die abwechselnde Erzählperspektive entsteht das Bild von zwei Leben, die eng miteinander verbunden sind. Während die Mutter sich von der Tochter stark distanziert, sucht die Tochter nach ihrer Liebe und Zuneigung – und flüchtet zu den Großeltern, die ihr all dies geben können. Die Mutter leidet an Depressionen, ausgelöst durch ihre ausgeprägte Ablehnung der politischen Strukturen in Lettland. Die politischen Verhältnisse, die Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion, bleiben zwar im Hintergrund der Handlung, sind aber dennoch Teil der Geschichte: Sie sind ein Grund für die Isolation der Mutter – nicht nur beruflich, sondern auch im persönlichen Umfeld. Die Mutter fühlt sich einer Welt von Misstrauen, Kontrolle und Hoffnungslosigkeit ausgesetzt.
Mutter (geboren 1944) und Tochter (geboren 1969) spiegeln persönliche Schicksale wider, die stark vom politischen System geprägt sind, das ihnen individuelle Entfaltung verweigert. Themen wie Isolation, Resignation, Depression, aber auch Sehnsucht nach Freiheit und emotionale Zerrissenheit stehen im Zentrum des Romans. Nora Ikstena verwebt symbolisch dicht und sprachlich sensibel die Entwicklungen vom Stalinismus bis zum Mauerfall. Dabei beschreibt sie das Leben im totalitären System aus der Perspektive empfindsamer, innerlich zerrissener Frauen – eine intensive, intime Annäherung an Geschichts- und Familiengeschichte.
„Voller Symbolik und Feingefühl erzählt Nora Ikstena über die Liebe zur Freiheit und das Drama des Lebens bis zum Fall der Berliner Mauer.“ (Verlag Klak)
Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung für Muttermilch von Nora Ikstena.
Muttermilch wurde mit dem lettischen Literaturpreis „Laligaba“ ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt.
- Titel: Muttermilch (Soviet Milk)
- Autorin: Nora Ikstena
- Erschienen, deutsche Ausgabe: 2019
- Seiten: 214
„Muttermilch“ von Nora Ikstena ist Teil unserer Bücherreise durch die Welt.
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