Zwielicht – Interpretation

Zwielicht

Zwielicht - Eichendorff

Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken ziehn wie schwere Träume –
Was will dieses Graun bedeuten?

Hast ein Reh du lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger ziehn im Wald und blasen,
Stimmen hin und wieder wandern.

Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug und Munde,
Sinnt er Krieg im tückschen Frieden.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren,
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich, bleib wach und munter!

Quelle: Eichendorff/Lyrik/Zwielicht, Seite 52/Gedichte

Interpretation: Zwielicht von Josef von Eichendorff

Das Gedicht „Zwielicht“ stammt von Josef von Eichendorff (1788 – 1857), einem der wichtigsten Vertreter der Romantik. Neben Erzählungen und Romanen schrieb er auch zahlreiche Gedichte, die häufig wichtige Passagen in seinen Prosatexten kennzeichnen. So findet sich das hier behandelte Gedicht in Eichendorffs erstem Roman „Ahnung und Gegenwart“ in Kapitel 17 wieder. An dieser Stelle hört der Held Friedrich in der Einsamkeit des Waldes dieses Gedicht als fernen Gesang. Es scheint so, als würde er seine Geliebte Rosa an den Prinzen verlieren. Eichendorff arbeitete an dem Roman von 1810 bis 1812, der jedoch erst drei Jahre nach langem Hin und Her veröffentlicht werden konnte. Den Titel „Zwielicht“ bekam das Gedicht erst 1937 bei der Veröffentlichung des Gedichtbandes „Gedichte“ von Josef von Eichendorff. Das Gedicht beschreibt die unheimliche Stimmung vor Einbruch der Nacht, außerdem spricht es zwei Warnungen aus und endet mit einem Appell. Alles in allem liest sich das Gedicht sehr bedrohlich und nahezu hoffnungslos. Wie weit dieser Eindruck bestätigt werden kann, wird im Weiteren erarbeitet werden. Zuerst soll eine kurze Analyse der Form, der sprachlichen Gestaltung und der Wortwahl erfolgen, daran anschließend der Versuch einer Deutung. Die Interpretation endet mit dem Ergebnis der Gedichtanalyse.

Das Gedicht ist in vier Strophen zu je vier Versen gegliedert, die wiederum aus vierhebigen Trochäen bestehen. Diese Häufung der Zahl vier ist auffallend, da sie etwas Statisches, Ganzes symbolisiert, außerdem wurde früher die Nacht auf vier Nachtwachen aufgeteilt, was einen Bezug der Vier zur letzten Strophe und der Aufforderung wach und munter zu bleiben, herstellt. Gleichzeitig verleiht der Trochäus dem Text einen eindringlichen Charakter. Die Gleichmäßigkeit der Dichtung zeigt sich auch im Reimschema. Es handelt sich dabei um umarmende Reime (abba), die die Geschlossenheit jeder einzelnen Strophe unterstreichen. Diese Gleichtöne sind mit Ausnahme von spreiten (Zeile 1) und bedeuten (Zeile 4) rein. Am Ende jeder Verszeile befindet sich eine weibliche Kadenz, die auf den Vokal e endet. Diese Konsequenz der Einhaltung des Reimschemas, der Kadenzen und Silbenendung lässt auf die Perfektion schließen, mit der Eichendorff an der Formung seiner lyrischen Dichtung arbeitet. Auch der Rhythmus in Zwielicht zeigt die Genauigkeit mit der der Romantiker arbeitet. Jede Verszeile entspricht einer Sinneinheit, die durch Beistriche innerhalb der Strophen und eines abschließenden Satzzeichens am Ende jeder Strophe gekennzeichnet ist. In Zeile 3 und in Zeile 15 werden diese dadurch entstehenden Pausen durch einen Gedankenstrich noch verlängert. Es wirkt wie ein kurzer Moment des Innehaltens bevor etwas Entscheidendes geschieht. Es gibt noch zwei Zäsuren, die die einzelnen Verse beziehungsweise Abschnitte gliedert: Die Zeile 10 endet zwar mit einem Beistrich aber durch ein Voranstellen des Satzteiles „Freundlich wohl mit Aug und Munde“ wird zumindest eine gedankliche Pause erzwungen. In Zeile 16 fordert ein Beistrich ein kurzes Atemholen ein, was die Eindringlichkeit der Aufforderung „Bleib wach und munter“ noch verstärkt.

In „Zwielicht“ stimmen die Sinnzusammenhänge mit den Versgrenzen überein, ähnliches gilt auch für die Satzgrenzen bzw. für einzelne Satzteile. Durch diese Gleichmäßigkeit rückt Schritt für Schritt die vermeintliche Bedrohung näher, bis sie ihren Höhepunkt in der dritten Strophe (Zeile 11 und Zeile 12), dem einzigen Hauptsatz, der über zwei Verszeilen reicht, findet. Auch im Aufbau der Satzstruktur erkennt man diese Gleichmäßigkeit und Genauigkeit Eichendorffs, die den Eindruck von Geschlossenheit in diesem Gedicht ausmacht: Die erste Strophe besteht aus drei Hauptsätzen, die durch Beistriche voneinander getrennt sind. Die dritte Verszeile endet mit einem Gedankenstrich um dann mit Zeile vier in einem Fragesatz zu enden. Die zweite Strophe besteht aus einem Gliedsatz, dem das Verb vorangestellt ist und drei Hauptsätzen, die wie bereits erwähnt, durch Beistriche voneinander getrennt sind. Um die Verbindung formal zur zweiten Strophe aufrecht zu erhalten, beginnt auch die dritte mit einem Gliedsatz, dem dann zwei Hauptsätze folgen. Die Zeilen sechs und zehn sind Aufforderungen (Lass es nicht alleine grasen, Trau ihm nicht zu dieser Stunde), deren Adressaten in weiterer Folge noch untersucht werden müssen. Mit der vierten Strophe übernimmt Eichendorff die Anordnung der Hauptsätze aus der ersten Strophe und schließt, nach einem Bindestrich, mit einem Ausrufesatz die letzte Verszeile des Gedichts ab. Dieser letzte Satz ist die Antwort auf die Frage „Was will dieses Graun bedeuten?“ (Zeile 4).

An einigen Stellen des Gedichts ist es notwendig die Satzstellung einzelner Wörter und Satzteile genauer zu betrachten. So stellt Eichendorff zum Beispiel in Zeile 2 stellt Eichendorff das Adjektiv „schaurig“ an die Ausdrucksstelle vor das Verb und spricht damit verstärkt die Gefühlsebene an. In der 5. Zeile zieht er das Reh an die zweite Stelle des Satzes und unterstreicht dadurch die Besonderheit dieses Symbols. Der 11. Vers beginnt mit einer Prolepsis, der Voranstellung des Adjektivs „freundlich“, wodurch dieses betont wird und zusammen mit „tückschem Frieden“ (Zeile 12) eine Klammer über beide Verse bildet. In der letzten Strophe, Zeile 13, verzichtet Eichendorff auf die Bildung der Satzklammer durch „gehet unter“ und stellt dadurch „müde“ an eine aussagekräftige Stelle im Vers. Ansonsten entsprechen die Sätze grammatikalischen Normen mit Ausnahme der Elipse, dem Fehlen des Artikels, der vor „Nacht“ (Zeile 15).

Auf der Wortebene fallen zuallererst die beiden inzwischen veralteten Wörter „spreiten“ (ausbreiten, Zeile 1) und „hienieden“ (hier unten, Zeile 9) auf. „Spreiten“ ist wie der Großteil der Verben in diesem Gedicht ein duratives Tätigkeitsverb. Den Verben, die fast alle eine Bewegung ausdrücken, stehen fast gleich viele Substantive gegenüber, wobei auffällt, dass in der letzten Strophe nur eines vorkommt (Nacht, Zeile 15). Die meisten Nomen stammen aus dem Umfeld Natur, was typisch für die Zeit der Romantik ist, dabei verwendet Eichendorff gerne den Wald und Bäume (Zeile 7 und 2) als Symbol in Verbindung mit menschlicher Wahrnehmung und Gefühlen. Diesen Naturbegriffen stehen die Substantive Menschen (Jäger, Zeile 7), Sinne (Aug, Mund, Zeile 11) und Gefühle (Träume, Zeile 3) betreffend gegenüber. Diese Gegenüberstellung der Begriffe lässt sich auch bei den Verben erkennen, zum Beispiel grasen – blasen (Zeile 6 und 7).

Die verwendeten Adjektive zeigen in der ersten Strophe in die gleiche Richtung (schaurig, schwer, Zeile 2, 3), jedoch ab dem zweiten Abschnitt drücken sie Gegensätzliches aus (lieb/alleine Zeile 5 u. 6, freundlich/tückisch Zeile 11 u. 12, müde/wach und munter Zeile 13 u.16). Gleiches gilt für die beiden Perfekt Partizipien „neugeboren“ und „verloren“ (Zeile 14 u. 15), wobei diese Verbform gleichzeitig ausdrückt, dass etwas zu einem Ende gekommen ist. Eichendorff hat die Platzierung dieser Verbformen so gewählt, dass sie gleichzeitig auch Erlösung versprechen.

Schon der Titel Zwielicht gibt einen Hinweis auf das Thema des Gedichts von Eichendorff. Das Wort bedeutet eine Mischung aus Licht und Dunkel, also weder Tag noch Nacht. Es sind Verhältnisse, in denen das Auge oft täuscht, man Dinge nicht klar wahrnehmen kann. Man sieht Sachen, die eigentlich nicht da sind. Schon dieses Wort erzeugt eines der von Eichendorff gerne verwendeten Bilder, wie auch die Darstellung der Dämmerung, die sich wie die Schwingen eines Vogels über die Landschaft ausbreitet und die Schatten vorauswirft (Zeile 1). Durch das Verb „spreiten“ wird klar, dass es sich dabei um den Einbruch der Nacht handelt, was durch „was heute untergehet“ (Zeile 13) bestätigt wird. Die Dämmerung steht hier als Eingang zur Nacht, als eine Zeit der Ungewissheit, der nahen Zukunft. Dieses Unwohlsein wird noch verstärkt durch sich rührende Bäume (Zeile 2) und schwere Träume (Zeile 3). Diese ersten drei Zeilen des Gedichts zeigen, dass nichts still steht, alles ist in Bewegung, selbst Dinge, die einen festen Halt geben sollen, können diesen nicht mehr geben. Worauf der Erzähler des Gedichts die Frage stellt, was das alles zu bedeuten habe (Zeile 4).

Aber in all dieser Unruhe und Ungewissheit, gibt es einen ruhenden Punkt, das grasende Reh (Zeile 5 u. 6), das hier für die Braut steht, die ähnlich wie die Bäume in der ersten Strophe Halt geben soll. Aber auch sie ist in Gefahr, das idyllische Bild trügt, denn schon nähern sich die Jäger (Zeile 7), zuerst hört man nur ihr Blasen (Zeile 7) doch bald schon ihre Stimmen. In dieser Strophe spricht der Erzähler das erste Mal ein Du (Zeile 5) an und befiehlt ihm, auf seinen Schatz – das geliebte Reh – aufzupassen. Dieses Du wird hier als unpersönliche Anrede verwendet, ähnlich einem „man“, um den eigentlichen Adressaten, das Ich, wie in diesem Gedicht, zu verschleiern. In der dritten Strophe warnt das lyrische Ich auch vor einer anderen Beziehung, nämlich vor der zu einem Freund (Zeile 9 u. 10), auch hier fühlt das Ich sich alleine gelassen und verraten (Trau ihm nicht, Zeile 11). Jedoch steht der Freund hier stellvertretend für das soziale Leben, auf das in einer unsicheren Zeit und einer Gesellschaft im Wandel kein Verlass mehr ist. Dieses Gefühl der Unsicherheit wird noch durch die Antithese Freund – Krieg (Zeile 9, 12) verstärkt, das lyrische Ich vermittelt, dass es besser ist, wenn jeder alleine bleibt, denn man wird doch nur getäuscht (freundlich sinnt er Krieg im tückschen Frieden, Zeile 11 u. 12). Gleichzeitig wird die Bedrohung verschärft. Krieg ist fast greifbar, eine Steigerung der heranziehenden Gefahr ist kaum mehr möglich.

Sind die ersten drei Strophen von Bewegung gekennzeichnet, so wirken die letzten vier Verse statisch. Endlich ist ein Stillstand erreicht, das lyrische Ich ist müde von all der Mutlosigkeit und Angst, die ihn ständig bedrängen, ein Ende ist erreicht (Zeile 13) und dennoch scheint nicht alles verloren, denn am nächsten Morgen gibt es neue Möglichkeiten und neue Aussichten (hebt sich neugeboren, Zeile 14). Es existiert eine geringe Hoffnung auf eine bessere und ruhigere Zukunft, auch wenn nicht alles gerettet werden kann und einiges in den unruhigen, gefahrvollen Zeiten verloren geht (Zeile 15). Und endlich findet das lyirsche Ich im letzten Vers die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, was das alles zu bedeuten habe: Egal was passiert oder was die Zukunft bringen wird: pass auf und sei achtsam – es gibt immer Hoffnung und damit schließt das Gedicht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Gedicht Zwielicht von Josef Freiherr von Eichendorff in die Epoche der Hochromantik einordnen lässt. Es spiegelt sehr gut diese Zeit der Unzufriedenheit der Bürger mit der sozialen Lage dieser Zeit wider. Viele Menschen fühlten sich durch die politische Lage in ihrer Existenz bedroht, diese Unsicherheiten und Ängste werden in diesem Gedicht beschrieben und aufgezeigt. Gleichzeitig gibt Zwielicht auch den Hinweis auf die Übergangszeit, in der es geschrieben wurde und dass danach, trotz Verlusten wieder eine Zeit der Hoffnung kommen wird. Daher lohnt es sich im Ungewissen an den Ausruf „Hüte dich!“ zu denken, dann kann man auch der Zukunft hoffnungsvoll entgegensehen.