Ohrwurm – Der Song, der nicht mehr gehen will
Er kommt unerwartet, bleiben oft tagelang und lässt sich nicht abschütteln: der Ohrwurm. Dieses Phänomen hat nicht nur einen kuriosen Namen, sondern auch faszinierende Ursachen. Ein Essay über eingängige Melodien, psychologische Schleifen und das geheime Erfolgsrezept der Popmusik.
Ein gewöhnlicher Montagmorgen. Der Kaffee ist noch zu heiß, der Kopf noch zu leer – und plötzlich: „Last Christmas I gave you my heart…“ Schon ist es passiert. Der Ohrwurm hat zugeschlagen. Ohne Vorwarnung, ohne Einladung – und ohne Aussicht auf baldiges Verschwinden.
Das Phänomen ist so verbreitet wie rätselhaft. Fast jeder kennt es, viele hassen es, und doch lässt es sich kaum vermeiden. Aber was genau ist eigentlich ein Ohrwurm? Woher stammt dieser eigentümliche Begriff, und warum nisten sich manche Songs mit der Hartnäckigkeit eines popkulturellen Parasiten in unser Gehirn ein?
Was ist ein Ohrwurm?
Der Begriff „Ohrwurm“ stammt ursprünglich aus dem Deutschen und bezeichnete im Wortsinn ein kleines Insekt – das Tier „Forficula auricularia“, bekannt als Gemeiner Ohrwurm. Warum dieses harmlos wirkende Insekt als Namensgeber für ein musikalisches Phänomen herhielt, ist unklar. Wahrscheinlich handelt es sich um eine metaphorische Übertragung: Wie der Ohrwurm in alten Mythen angeblich in Gehörgänge kroch, scheint auch die eingängige Melodie direkt ins Ohr – und von dort ins Gehirn – zu gelangen.
Im Englischen wird das Phänomen mittlerweile ebenfalls mit dem deutschen Wort „earworm“ bezeichnet – eine kleine sprachliche Weltkarriere, die dem beharrlichen Wesen der Erscheinung durchaus gerecht wird.
Psychologisch betrachtet handelt es sich beim Ohrwurm um ein sogenanntes „involuntäres musikalisches Vorstellungsbild“ – eine Melodie, die sich in unser Bewusstsein drängt, ohne dass wir sie aktiv abrufen. Das macht den Ohrwurm zu einer Art musikalischem Gedankenkaugummi: Er beschäftigt uns, ohne uns zu fragen, ob wir das eigentlich wollen.
Wie entsteht ein Ohrwurm?
Nicht jeder Song wird zum Ohrwurm. Es gibt bestimmte musikalische Eigenschaften, die das „Einnisten“ einer Melodie begünstigen. Dazu gehören:
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Wiederholung: Ein Refrain, der sich oft wiederholt, brennt sich leichter ein. Beispiele: „Who let the dogs out?“ oder „Call me maybe“.
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Einfache Struktur: Ohrwürmer sind musikalisch meist simpel aufgebaut. Das macht sie leicht verdaulich – und schwer vergessbar.
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Unerwartete Intervalle: Eine kleine melodische Überraschung – wie in „Smoke on the Water“ oder dem „Imperial March“ aus Star Wars – kann helfen, eine Linie besonders einprägsam zu machen.
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Rhythmische Prägnanz: Klare, markante Rhythmen fördern das mentale Wiederholen – so etwa bei „We Will Rock You“ oder „Seven Nation Army“.
Auch persönliche Faktoren spielen eine Rolle. Studien zeigen: Menschen mit einem gewissen Maß an Neurotizismus oder einer hohen Affinität zur Musik sind besonders anfällig. Und wer regelmäßig Musik hört, hat schlicht mehr Gelegenheiten, sich etwas einzufangen.
Ohrwurm als neurologisches Phänomen
Neurowissenschaftlich betrachtet ist der Ohrwurm eine spontane Reaktivierung des auditorischen Kortex. Das Gehirn „hört“ die Musik gewissermaßen noch einmal – ohne äußeren Reiz. Derartige mentale Schleifen sind vergleichbar mit dem sogenannten „Zeigarnik-Effekt“: Unerledigte Aufgaben oder offene Reize bleiben im Gedächtnis präsenter. Wurde ein Songfragment beispielsweise unterbrochen oder nicht zu Ende gehört, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass es später wiederkehrt.
Das Gehirn sucht also nach Abschluss – findet ihn aber nicht. Ergebnis: Wiederholung im Kopf. Willkommen beim Loop des Grauens.
Zwischen Nerv und Nostalgie
Doch nicht jeder Ohrwurm ist lästig. Manche Melodien wecken Erinnerungen, Glücksgefühle oder das Bedürfnis, sofort mitzusingen. Hier zeigen sich die zwei Gesichter des Ohrwurms: Als nerviger Störenfried im Arbeitsalltag – oder als Türöffner zu vergangenen Momenten und Emotionen.
Die Werbeindustrie hat das früh erkannt. Jingles wie „Haribo macht Kinder froh“ oder „Ich bin doch nicht blöd“ funktionieren exakt nach dem Ohrwurm-Prinzip. Sie bleiben hängen, auch wenn wir das nicht wollen – und genau das macht sie so erfolgreich.
Kann man Ohrwürmer loswerden?
Die schlechte Nachricht zuerst: Ohrwürmer sind hartnäckig. Die gute: Es gibt Strategien, sie zu vertreiben. Forscher empfehlen etwa das bewusste Anhören des gesamten Songs – um dem Gehirn den „Abschluss“ zu geben, den es sucht. Auch Kaugummikauen, Sudoku oder das Singen eines anderen Liedes können helfen, die musikalische Gedankenschleife zu durchbrechen.
Manche schwören auch auf „musikalisches Desinfektionsmittel“ – sogenannte Anti-Ohrwurm-Songs, etwa Mozarts Klarinettenkonzert oder „Komm, süßer Tod“ von Bach. Ob das hilft? Versuch macht klug.
Kleine Melodien mit großer Wirkung
Der Ohrwurm ist ein musikalisches Mysterium – nervig, faszinierend, unausweichlich. Er zeigt, wie tief Musik unser Denken und Fühlen beeinflusst, oft auf subtile und unbewusste Weise. Während die einen ihn verteufeln, feiern andere ihn als Beweis für die Macht des Pop.
Was bleibt, ist eine bittersüße Erkenntnis: Manchmal ist der einzige Weg aus dem Ohrwurm – mitten hindurch. Also singen wir ein letztes Mal mit: „Never gonna give you up…“ – und wissen genau, was jetzt passiert.
Ohrwürmer – die man nicht mehr los wird …. oder sonstiges schräges Zeugs …