Schande von J. M. Coetzee

Gedanken zu Schande von Coetzee

In Schande von J.M. Coetzee verliert ein Universitätsprofessor nach einem Skandal seine Stelle und zieht notgedrungen zu seiner Tochter aufs Land. Dort, in der Abgeschiedenheit, wird er mit brutaler Gewalt, seiner eigenen Schuld und den tiefgreifenden Veränderungen im post-apartheid Südafrika konfrontiert.

Schande von John Maxwell Coetzee

In J.M. Coetzees Roman Schande stehen vielschichtige, ambivalente Figuren im Zentrum, deren Handlungen und Haltungen eng mit den politischen und sozialen Umbrüchen im postapartheidlichen Südafrika verknüpft sind. Die folgenden Personenbeschreibungen werfen ein Licht auf ihre inneren Konflikte, ihre Entwicklung im Laufe der Handlung sowie ihre Rolle im Spannungsfeld zwischen persönlicher Verantwortung, kulturellem Wandel und moralischer Orientierung.

David Lurie – Frauenheld mit Mangel an Empathie

David Lurie ist ein Frauenheld, der sich an eine viel jüngere Studentin heranmacht. Diese ist passiv und willenlos, lässt sich von Lurie überrumpeln. Er geht plump vor und lässt nicht locker. Seine Anmache ist aufdringlich. Sie zeigt keinerlei Interessen an seinen Avancen, aber dennoch schläft sie mit ihm.
Für mich stellt sich die Frage, wie weit er sich zurückhalten hätte müssen, bzw. wie weit ist der Vorwurf des Missbrauchs wirklich gerechtfertigt. 

Lurie entwickelt sich vom arroganten Intellektuellen zu einem nachdenklicheren, verletzlicheren Menschen. Besonders seine Arbeit im Tierheim, wo er todkranken Hunden beisteht, steht symbolisch für seine wachsende Demut und seine allmähliche Hinwendung zu Mitgefühl und Verantwortung – nicht aus moralischer Überzeugung, sondern aus menschlicher Notwendigkeit.

Am Ende von „Schande“ ist er soweit sich von einem Hund zu trennen, der im Tierasyl auf den Tod wartet. Mit dieser Textstelle kann ich eigentlich nicht wirklich viel anfangen, am ehesten bedeutet es für mich, dass er, ähnlich wie seine Tochter, mit der Geschichte des Landes Frieden geschlossen hat.

Lucy geht in der Opferrolle auf

Die Tochter von David, Lucy, lebt auf der Farm und versucht mit dem Verkauf von Blumen und Gemüse sowie mit der Hundepension ihr Land zu erhalten. Bereitwillig nimmt sie ihren Vater auf.
Zu Spannungen kommt es erst nach dem Überfall: Sie beide verfolgen unterschiedliche Ziele.
Sie hat die Dynamik der Nach-Apartheid akzeptiert, sie hat erkannt, dass sie auf ihrem stück Land nur dann bleiben kann, wenn sie das Geschehene ohne Widerstand akzeptiert. Das ist auch der Grund, warum sie in die Ehe mit Pollux, dem Nachbarn, einwilligt.

Im Gegensatz zu ihrem Vater ist sie bodenständig, pragmatisch und akzeptiert die gesellschaftlichen Veränderungen im postapartheidlichen Südafrika. Sie sucht keine Konfrontation, sondern einen Weg des Zusammenlebens – auch wenn dieser Verzicht und Schmerz bedeutet. Nach einem traumatischen Gewaltverbrechen entscheidet sie sich bewusst gegen Rache oder öffentliche Aufarbeitung und akzeptiert ihre neue Realität mit bemerkenswerter innerer Stärke. Ihre Haltung wirkt auf ihren Vater zunächst unverständlich, spiegelt jedoch eine tiefe, stille Form der Selbstbestimmung und Anpassung wider. Lucy steht damit für eine neue Generation, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen – nicht durch Macht oder Widerstand, sondern durch Demut, Beharrlichkeit und das Aushalten von Ambivalenz. Dennoch ist für mich diese Akzeptanz der Opferrolle nur schwer verständlich. Mir fällt es wesentlich leichter, die Absichten von David zu verstehen.

Pollux – einer der Täter

Pollux ist ein schwarzer Südafrikaner, der ursprünglich ein unterbezahlter Arbeiter auf Lucys Farm war. Sie hat ihm einen Teil des Landes überschrieben. Das dürfte auch der Grund für den Überfall gewesen sein, denn wie es der Zufall wollte, waren er und seine Familie genau zur Zeit des Überfalls nicht in der Gegend. Einer der Täter ist bei einem Fest von Pollux aufgetaucht, es zeigte sich, dass er ein Verwandter ist. Pollux ist eine Nebenfigur in J.M. Coetzees Schande, spielt jedoch eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Handlung und der moralischen Spannung des Romans. Er ist der jüngere Bruder von Petrus, Lucys Nachbarn, und wird als geistig unreif und kindlich dargestellt – körperlich bereits ein Mann, aber im Verhalten unreif.

Pollux ist einer der Täter bei dem Überfall auf Lucy, was ihn zu einer Schlüsselfigur im Konflikt zwischen David Lurie und seiner Tochter macht. Während David auf Gerechtigkeit drängt, besteht Lucy darauf, in ihrer neuen Lebensrealität zu bleiben – auch wenn das bedeutet, Pollux in ihrer Nähe zu dulden. Pollux wird so zum Symbol für den Bruch zwischen alten und neuen Machtverhältnissen im postkolonialen Südafrika und für Lucys Versuch, in einer veränderten Gesellschaft ihren Platz zu finden, selbst um den Preis persönlicher Sicherheit und Würde.

Kurze Gedanken zu Schande

Eigentlich hat mir das Buch nicht so schlecht gefallen, obwohl es den Lobpreisungen nicht gerecht wird. Die Sprache ist einfach, der Text nicht kompliziert. Es streift die Themen: Missbrauch, Vergewaltigung und die Geschichte Südafrikas in Form der Nachapartheid. J.M. Coetzees Schande ist ein vielschichtiger Roman über Macht, Schuld, Wandel und die Suche nach moralischer Orientierung in einem postapartheidlichen Südafrika. 

Im Zentrum steht der gefallene Professor David Lurie, dessen persönlicher Abstieg parallel zum gesellschaftlichen Umbruch verläuft. Der Roman thematisiert nicht nur individuelle Verfehlungen, sondern auch kollektive Verantwortung und die Schwierigkeit, Gerechtigkeit in einem gespaltenen Land neu zu definieren. Lucys Entscheidung, trotz Gewalt zu bleiben, steht für eine stille, radikale Anpassung an neue Realitäten. Schande fordert Leser:innen heraus, einfache Urteile zu hinterfragen und Ambivalenzen auszuhalten.

Zum Autor J.M. Coetzee

J.M. Coetzee, geboren 1940 in Kapstadt, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Südafrikas mit niederländischen Wurzeln. Er ist Träger des Nobelpreises für Literatur (2003). Seine Werke zeichnen sich durch sprachliche Präzision, moralische Tiefe und eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtstrukturen aus. Coetzee thematisiert immer wieder die politischen und ethischen Konflikte Südafrikas, insbesondere während und nach der Apartheid. Romane wie Warten auf die Barbaren, Schande oder Leben und Zeit des Michael K. verbinden persönliche Schicksale mit großen gesellschaftlichen Fragen. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist Coetzee auch Literaturwissenschaftler und lebt seit 2002 in Australien. Viele der Bücher haben autobiographische Schnippsel.

Schande von J.M. Coetzee

Schande von Coetzee

 

  • Taschenbuch: 288 Seiten
  • FISCHER Taschenbuch, 2001

Inhalt von Schande von J.M. Coetzee

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