Inferno: Der moderne 10. Kreis von Dantes Hölle
Geheimnisse sind Lügen! Teilen ist Heilen! Brauchen wir noch Geheimnisse? – So lauten die bedeutsamsten Schlagwörter des Internetkonzerns „Der Circle“, in dem die 24jährige Mae Holland mit Tausenden anderen arbeitet. Ihr Job in diesem bekanntesten und fortschrittlichsten Unternehmen der Welt klingt wie das Paradies: Sie bearbeitet Kundenanfragen, kann daneben mit Firmenkollegen zingen, chatten, gleichzeitig – so ganz nebenbei – an deren Social Network-Live teilhaben und Produktempfehlungen abgeben, damit ihr persönliches Ranking weiter steigt. Jeder will hier arbeiten und Mae ist unglaublich stolz hier arbeiten zu dürfen. Nach einer Rüge durch ihre Vorgesetzten wird sie immer mehr Teil dieser Internet-Society. Eines Tages lernt sie den geheimnisvollen Kalden kennen, der offenbar ausserhalb dieser Circle-Welt steht, was einen gewissen Reiz für sie ausmacht.
Gleichzeitig nimmt das soziale Leben innerhalb des Circles immer mehr Einfluss auf ihr normales Leben auch außerhalb ihrer Zeit in der Firma. Dies spiegelt sich auch im Aufbau des Romans wieder. Zu Beginn des Romans nehmen ihre Besuche bei den Eltern, Gespräche mit ihrem Exfreund und ihr Hobby, das Kajakfahren, nicht nur Raum in ihrem Leben sondern auch in der Handlung selbst ein. Diese werden jedoch weniger und weniger und Mae verbringt immer mehr Zeit am Gelände der Firma, wo alles angeboten wird: von Freizeitgestaltung bis zu Geschäften. Die Handlung ist aus Sicht von Mae erzählt und spiegelt neben ihren Erlebnissen auch ihre Gedanken wieder.
Dave Eggers hat mit seinem Roman ein sehr aktuelles Thema aufgegriffen, so sind wir doch alle in irgendeiner Weise im Internet unterwegs und hinterlassen unsere Spuren: Wir nutzen Google für Suchanfragen, wir twittern, wir geben unseren Status über Vorlieben auf Facebook ab, wir tracken unseren Aufenthaltsort über unser Mobiltelefon, selbst unsere Fitnessuhr verschickt unsere Gesundheitsdaten – ja, wohin eigentlich? In „Der Circle“ von Dave Eggers sind es TrueYou, LuvLuv und viele andere firmeneigene Produkte –erinnert uns das nicht irgendwie an Google & Co? – die die Online-Lebensschnippsel jeder Person zusammensuchen, kombinieren und für jeden anderen abrufbar machen.
Während Mae ihren Job wirklich toll findet und sie darin voll aufgeht, wird dem Leser zusehends Angst und Bang. Er erkennt nämlich diese dystopische Welt der völligen Selbstaufgabe, in die Mae mit offenen Augen immer weiter hinein rutscht. Völlig kritiklos nimmt sie die lückenlose Überwachung, Transparenz und soziale Kontrolle in Kauf – findet sie sogar erstrebenswert: hilft sie doch dabei die Welt besser zu machen: Geheimnisse sind doch Lügen! – Der Leser selbst denkt unweigerlich an staatliche Kontrolle, Überwachungsstaat und Aufgabe der Individualität des einzelnen. Man zieht unweigerlich die Parallelen zu unserem eigenen Wahn, alles und jedes über sich im Internet freiwillig aber auch unfreiwillig – wie beispielsweise Firmenfotos, Ergebnisse von Wettkämpfen, Teilnahme an öffentlichen Projekten u.v.m. – zu veröffentlichen. Während man vor Jahren noch Angst vor Orwells Big Brother hatte, sind wir nun alle Teil davon.
Eggers gelingt es, diese transparente, kontrollierte Welt fast körperlich schmerzhaft zu zeichnen, allerdings löst sein Schreibstil fast ähnliches Empfinden aus. Die Sprache ist einfach, ohne Höhen und Tiefen, der Wortschatz unkompliziert. Die Sätze sind in der Regel kurz, meistens nur einfache Haupt- oder Fragesätze. Die Figuren selbst bleiben flach, allerdings passt dies gut zu dieser oberflächlichen Social-Network-Welt: wer will hier schon Personen, die sich als tiefgründig oder an sich wachsend erweisen? Schnell und einfach sollen die Personen sein, so im Vorbeigehen die Information erfassbar sein.
Fazit: Eggers zeichnet eine transparente, überwachte und konforme Zukunft, in der wir schon längst angekommen sind.
Dave Eggers – Der Circle
erschienen: August 2014
gebundene Ausgabe, 560 Seiten
Kiepeneuer & Witsch