Blutleib

„Haha, said the Clown“, Manfred Mann

Blutleib – Einleitung

Der Abend war wie alle Abende zu dieser Jahreszeit. Die Bewohner hatten sich in die geheizten Häuser zurückgezogen und vermieden es, vor Anbruch des neuen Tages noch einmal vor die Türe zu gehen. Blaugrauer Rauch qualmte aus den zahlreichen Kaminen. Der Herbst hatte sich bereits angekündigt und sobald die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, sanken die Temperaturen und Wind kam auf. Er klang wie das Rauschen eines Flusses bei Hochwasser und blies um Häuser und Bäume des kleinen Dorfes, riss die Blätter von den Ästen und jagte sie vor sich her. Fetzen leiser, unrhythmischer Musik klangen durch die leeren Straßen. Die morschen Fensterläden des mit Efeu überwucherten Ziegelhauses am Rande des Sportplatzes knarrten und quietschten unter der Last des Windes. Es schien, als würde das Haus näher zum Wald rücken und sich vor dem Sportplatz verstecken, den seit den unheimlichen Ereignissen damals niemand mehr betreten hatte. Sogar die Tiere mieden diesen Platz und die Vögel umflogen ihn in einem weiten Bogen.
Mitten auf der ungemähten Wiese innerhalb der Kunststoffbahn hing auf einem in den Boden gesteckten Speer wie ein Mahnmal eine Vogelscheuche aus Heu und Stroh. Sie trug ein rot-weiß gestreiftes, um die dürren Beine schlotterndes Clownskostüm. Das Gesicht, das aus einer großen Metallkugel bestand, war mit weißer Farbe bemalt, der Mund in der Form einer fliegenden Fledermaus rot umrandet. Blaue Dreiecke um die Augen vervollständigten die Maske. Die grellen Farben hatten kaum an Leuchtkraft verloren, obwohl sie schon lange Sonne, Regen und Schnee ausgesetzt waren. Selbst der Wind konnte diesem Clown nichts anhaben, ihn losreißen oder ihn bewegen. Er hing wie eine Marionette ohne Schnüre still und nahezu friedlich herum. Um ihn herum tobte der Wind und wehte vergilbte abgerissene Ankündigungsplakate quer über den Sportplatz. Eines dieser Blätter blieb an der Spitze des Speers hängen und jedes Mal, wenn wieder eine Böe die Seite erwischte, konnte ein zufälliger Passant am Rande des Sportplatzes die seltsame Ankündigung lesen: Ich bin erinnerungslos, aber dazu gezwungen, mich an die Erinnerungen des Dorfes zu erinnern.
Auch damals vor 6 Jahren, beim letzten Wettkampf, tauchte ein Clown auf, der mit seinen Späßen dafür sorgte, dass die jungen Sportler und Zuschauer auch abseits des Wettkampfs Unterhaltung finden konnten. Er mischte sich unter die Menge der Besucher und erfreute sie mit seinen Kunststücken und Scherzen. Fröhliches Geschrei und Lachen schallte über den Sportplatz und übertönte beinahe die Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte und die jungen Sportler anfeuern sollte.
Einige Mütter verteilten Kaffee, Kuchen und bunte Luftballons, eigens organisierte Unterhalter spielten mit den Kindern Fangen, Seil springen und Verstecken. Und natürlich fanden die verschiedenen Ausscheidungskämpfe, bei denen fast 200 Kinder um den Meistertitel kämpften, statt. Das ganze Dorf war auf den Beinen und feierte mit. Es war das Ereignis des Jahres, das an diesem Tag zum letzten Mal stattfinden sollte, denn unerwartet hielt der Wahnsinn in diese Sportplatzidylle Einzug. Und morgen würde sich dieser Tag zum sechsten Mal jähren.